Das Land an der Jade hat sich im Laufe der Geschichte großen geografischen Veränderungen unterziehen müssen. Der Reisende, der heute durch dieses Land kommt, sollte wissen, dass die Landschaft, die sein Auge einfängt, starker vom Menschen geprägt worden ist, als vielleicht andere deutsche Gegenden. Die gegenwärtige verhältnismäßig geordnete Form der Küstenlinie sollte nicht darüber hinwegtauschen, dass sie das Ergebnis eines mehr als fünfhundertjährigen Prozesses von Fortschritten und Ruckschlagen im Deichbau ist, von dem auch das Leben unserer Familie geprägt wurde und von dem noch die Rede sein wird.
Hinter dieser Küstenlinie dehnt sich ein breiter Gürtel fruchtbarsten Bodens, die Marsch. Ausgezeichnet vor allem als Weideland, ist sie der Teil der Küstenregion, der die Menschen anzog, weil ihre gute Erträge guten Verdienst verhießen. Bescheideneren Gewinn bot die Geest, das trockene Ackerland hinter der Marsch, wie zum Beispiel in Hurrel, das auch aus diesem Grund sicher ohne großes Heimweh von Jürgen und seiner Familie verlassen werden konnte.
Aber jeglicher Kultur feindlich ist das Moor, das man darum im Lauf der Zeit bis auf wenige Reste beseitigt hat. Unverändert bei allem blieb nur das Wetter, vor allem der Wind, der von Westen die tief hängenden Regenwolken des Atlantiks heran treibt. So kämpft man hier nicht nur gegen das Wasser an der Küste, sondern auch gegen das Regenwasser, dessen Abfluss die Natur in dem nur wenige Meter hohen Lande und gegen eine halbtägige Flut der Nordsee sehr erschwert. Die Entwässerung der Fluren war und ist eine lebenswichtige Aufgabe, zu deren Bewältigung die Menschen vieles in der ursprünglichen Landschaf verändert haben.
Diese geografischen Voraussetzungen haben die Einwohner wie überall im Laufe der Jahrhunderte beeinflusst. Sie sind Bauern, im besten Sinne des Wortes und keine Städter. Zum bäuerlichen Denken gehört eine gewisse Hartnäckigkeit im Bewahren alter Vorstellungen, ein gesundes Misstrauen gegen überspitzte Neuerungen, eine prüfende Zurückhaltung vor fremden Personen und Erscheinungen und eine kaufmännische Begabung. Man ist nicht sprunghaft und auch nicht gesinnt, jeden Unbekannten gleich als Freund anzusehen, wie jedoch umgekehrt Deichbau und Entwässerung seit alters her den Sinn für gegenseitigen Beistand und Zusammenhalt wachgehalten haben. Man liebt die überschaubaren Verhältnisse und fühlt sich heimisch zuerst im eigenen Haus, dann in der engeren Umgebung, als Bauer, Köter oder beim Deichbau. So prägt das Land den Menschen, wie er es seinerzeit geformt hat.
Der Jadebusen, in der Form wie wir ihn heute kennen, ist erst mit der großen Sturmflut von 1511 entstanden. Die sogenannte Antoniflut am 17. Januar 1511 konnte nur deshalb diese gewaltige Zerstörung anrichten, da die Jadedeiche nach der Flut von 1509 sehr nachlässig repariert worden sind und am 19. August 1510 abermals überflutet wurden.
Der Chronist Conrad Muhle schreibt dazu folgendes:
,Auch von der Mitte des Octobers an eine strenge Kälte einfiel, und dieselbe bis 1511 Januar 8 anhielt: so erhob sich am 16. und 17. Januar ein furchtbarer Sturm, welcher das dicke Eis ablöste, es heftig und schnell in großen Blocken an die Deiche warf, wodurch diese bald gänzlich zerfetzt wurden, und das Land sich mit hohen schrecklich brausenden Fluten und treibenden Eisklumpen bedeckte. An die Rettung der Habseligkeiten war bei diesem Tumulte nicht zu denken, indem sich urplötzlich eine große Anzahl der Häuser dahin stürzte, fast alles Vieh ertrank, an 800 Menschen in Butjadinger Lande, Schwey und Mooriem ihr Leben verloren und ganze Dorfschaften dahinschwanden. So wurde jetzt der noch übrige Theil des Jadelandes ein Raub der Wellen."